Berlin: NichtGenesenKids nimmt Stellung zum „Nein“ des Senats eine Long Covid Ambulanz aufzubauen

Erkrankte sind nach Aussagen der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KVB) gut versorgt, darauf bezieht sich der Senat in seiner Entscheidung. Doch die KVB kommt ihrem Versorgungsauftrag in der Realität nicht nach.

Nachdem der Berliner Senat der vom Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ins Spiel gebrachten Long Covid Ambulanzen zur interdisziplinären Versorgung Betroffener eine Absage erteilt hat (vgl. BZ 23.07.2024: Long-Covid-Ambulanzen in Berlin – warum sie doch nicht kommen > Link) und die Kassenärztliche Vereinigung ihre Behauptung, die Long Covid Erkrankten seien durch Hausärzte und Fachärzte gut versorgt, nochmals bekräftigte (vgl. Ärzteblatt 31.07.2024: Long COVID – KV Berlin betrachtet Versorgung als gesichert > Link), hat der Länderbeirat Berlin die Gelegenheit genutzt, in der rbb24 Abendschau vom 07.08.2024 – 19:30 (> Link) Stellung zu beziehen.

Katja Sielemann (links) zu Gast bei der rbb24 Abendschau vom 07.08.2024


Wir meinen, dass die Kassenärztliche Vereinigung ihrem Versorgungsauftrag im Hinblick auf die Kinder und Jugendlichen in Berlin, die nach einer Covid19-Infektion oder Covid19-Impfung an Post Covid, Post Vac oder ME/CFS leiden, nicht ausreichend gerecht wird. Die Kassenärztliche Vereinigung, deren Stellungnahme sich der Berliner Senat bei seiner Entscheidung offensichtlich zu eigen gemacht hat, vertritt vehement die Auffassung, die Kinder und Jugendlichen seien über die Regelversorgung mit Haus- und Fachärzten und ein Long Covid Netzwerk von rund 70 Arztpraxen gut versorgt und verweist im Übrigen auf die Charité, für die sie aber nicht zuständig sei (Gespräch des Länderbeirats Berlin mit der KV am 2. August 2024).

Das entspricht nicht der von den betroffenen Familien erlebten Realität:

(1) Das Long Covid Netzwerk ist für Patienten nicht zugänglich, es Bedarf eines Hausarztes, der an einen der im Netzwerk organisierten Ärzte oder Psychothearapeuten vermittelt. Zudem ist bisher kein einziger Kinderarzt, Kinderkardiologe, Kinderpneumologe, Kindergastroenterologe oder Kinderneurologe an diesem Netzwerk beteiligt. Wie hilfreich das für die betroffenen Familien ist, lässt sich erahnen, denn Kinder sind bekanntlich keine kleinen Erwachsenen.

(2) Die Berliner Kinderarztpraxen sind überlastet. Der Berufsverband der Berliner Kinder- und Jugendärzte beklagt die schlechte Versorgungslage schon lange und warnte  bereits im Januar 2024 vor dem Zusammenbruch der Versorgung (BVKJ Pressemitteilung vom 29.01.2024: Ambulante und stationäre Versorgung von Kindern und Jugendlichen akut in Gefahr und auf Dauer nicht gesichert > Link). Dazu sollte man wissen, dass jede Berliner Kinderärztin durchschnittlich 1.900 Kinder betreut.
Wir gehen aufgrund der Feststellung im Deutschen Bundestag, dass mindestens 140.000 Kinder deutschlandweit potentiell an den Langzeitfolgen leiden (Bundestagsdrucksache 20/10492 vom 27. Februar 2024 > Link), von rund 6.300 Kindern und Jugendlichen in Berlin aus, die an Long Covid u/o ME/CFS erkrankt sind und nicht von nur 1.000 Kindern, wie es von der Kassenärztlichen Vereinigung angenommen wird. Es fehlt daher häufig schon an entsprechenden Kapazitäten der Kinderarztpraxen. Darüberhinaus verfügen sie häufig nicht über das erforderliche Fachwissen und die nötige Erfahrung, um sich bedarfsgerecht mit dieser Multisystemerkrankung auseinanderzusetzen und eine Behandlung anbieten zu können; denn die Erkrankung ist komplex, kann verschiedene Organe betreffen, sich durch mehrere von rund 200 Symptomen zeigen und ist geprägt von einer individuellen Belastungsintoleranz. 

(3) Auch den Facharztpraxen fehlt es häufig an Fach- und Erfahrungswissen zu dieser komplexen und heterogenen Erkrankung; sie übernehmen in der Regel lediglich die Ausschlussdiagnostik.

(4) Schließlich geht auch der Verweis an die Charté fehl. Die Post Covid Ambulanz für Kinder und Jugendliche des Sozialpädriatischen Zentrums wurde im Herbst 2023 aufgegeben und unseres Wissens gibt es aktuell kein einheitliches Konzept zur Versorgung. 

Vor diesem Hintergrund ist es für uns nicht nachvollziehbar, auf welcher Grundlage die Kassenärztliche Vereinigung zu der Behauptung gelangt, die Kinder- und Jugendlichen seien in Berlin gut versorgt. Selbst Frau Prof. Dr. Scheibenbogen von der Charité konstatiert die schlechte Versorgung der an Long Covid und ME/CFS leidenden Kranken (rbb24 Panorama 29.02.2024: Long-Covid-Patienten nach wie vor schlecht versorgt > Link) und eine Studie der Techniker Krankenkasse kommt zum gleichen Ergebnis (FAZ 07.08.2024: Long-Covid-Patienten werden mangelhaft versorgt > Link).
Damit ist unverständlich, dass der Berliner Senat dieser Behauptung folgt und den Koalitionsvertrag, der den Aufbau von Long Covid Ambulanzen vorsah, bricht.

Wegen dieser mangelhaften Versorgung fordern wir den Aufbau eines Long Covid Kompetenzzentrums für Berlin 

  • als zentrale Anlaufstelle für die betroffenen Familien
  • mit Kinder- und Fachärzten, die idealerweise bereits Fach- und Erfahrungswissen zu Long Covid und ME/CFS mitbringen,
  • die für eine angemessene Aufklärung der Familien über die Erkrankung sorgen (inklusive „Pacing“)
  • wo eine zeitnahe Diagnostik und symptomorientierte Behandlung erfolgt, auch um dadurch schwere Verläufe wie  ME/CFS nach Möglichkeit zu vermeiden.
  • wo die Krankheitsdaten strukturell erfasst und für die Verbesserung der Versorgungsforschung verwendet werden können

Für den Aufbau derartiger Versorgungskonzepte hat das Bundesgesundheitsministerium seit dem 25. Juli 2024 Fördermittel in Höhe von 52 Millionen Euro für die Laufzeit von vier Jahren bereit gestellt (vgl. Förderrichtlinie des BMG).
Wir wünschen uns, dass auch für Berlin entsprechende Versorgungskonzepte entwickelt und die Fördermittel für eine Versorgung unserer Berliner Kinder- und Jugendlichen bis zum Ablauf der Antragsfrist am 22. August 2024 beantragt werden.

Zusammenstellung der erwähnten Links:

[Katja Sielemann 08.08.2024]